Es gibt nur wenige Reiseziele, die das kribbelnde Gefühl der Fremdheit vermitteln. Der ursprüngliche Sinn einer Reise sollte ja gerade das Unbekannte, das Abenteuer, die Sprachlosigkeit in der Kommunikation, das Außergewöhnliche sein. Das 21. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Mobilität. Man jettet durchs Leben und die Cities. Ein Kurztrip hier, ein Wellness Wochenende da. Die Quittung ist der tägliche Wahnsinn an sämtlichen Flughäfen weltweit. So erstaunt es statt Masse, einen leeren Frankfurter Check-in, leere Security Kontrolle, und leeren Flieger vorzufinden. Wer will schon im Januar nach Minsk?  Oder besser gefragt: wer will eigentlich überhaupt nach Minsk?

Mein Blick überfliegt die Sitzreihen meines Lufthansa Flugs. Kantige Gesichtszüge der Männer, puppenhafte Weiblichkeit der Frauen – das ist die DNA des Ostens. Viele Deutsche sind es nicht. Ich lehne mich mit einem Lächeln zurück, ohne zu ahnen, dass mir dieses sehr schnell vergehen wird.

Minsk, – 20 Grad mit zu gefrorener Swislatsch

Ankunft Minsk. Leere Passkontrolle, leerer Flughafen, keine Warterei. Ich bin euphorisch. Paris kennt jeder. Minsk wohl keiner. Ich gehe durch doppelt verglaste Schiebetüren nach draußen und mein Lächeln gefriert. Sprichwörtlich. -20 Grad. Väterchen Russlands kalter Atem schmerzt stechend. Ich stolpere angezählt zurück ins Terminal und ziehe alles an was die Tasche hergibt und trete erneut gegen Belarus an.

Unweigerlich muss ich muss an die Filmszene aus Cool Runnings denken. Das jamaikanische Bobteam reist nach Calgary, Kanada und erlebt den Kälteschock. Minsk ist mein Calgary. Auf einer schnurgeraden Autobahn geht es im Taxi die 40 km nach Minsk. Links und rechts türmt sich eine verwehte Schneelandschaft auf. Kein Mensch ist zu sehen. Die Minsker, die draußen sind, sehen aus wie dampfende Alpakas. Pelzmäntel mit Kapuzen, dampfende Atemfahnen stehen in der Luft. Böse Zungen behaupten: „Nur russische Frauen schaffen es in teuren Kleidern billig auszusehen.“

Zugegeben, es ist eine Pauschalisierung, aber es ist was dran. Die Stiefel sind immer einen Tick zu hoch, die Röcke gerne einen Tacken zu kurz und die French Nails grundsätzlich zu lang. Russische Frauen sind Porno. Immer. 24/7. Aber die Kälte ist irgendwie ein Gleichmacher.  Die Frauen sehen in den taillierten, langen Fellmänteln sehr elegant aus, nicht billig. Grazil bewegen sie sich auf turmhohen Stiefelabsätzen mit stoischem Gesicht über vereiste Gehwege. West-Europäerinnen würden hier vermutlich ohne ärztliches Attest nicht mal mit Schneeketten spazieren gehen.

Minsk ist genauso wie man sich den Osten vorstellt. Eckig, praktisch, lieblos. Wuchtige Wohnsilos mit unfassbar vielen identischen Wohneinheiten stehen hier nebeneinander wie am Lineal gezogen. Riesige Parkanlagen lassen jeden europäischen Städteplaner dagegen vor Neid erblassen. Minsk atmet frei und flaniert großzügig. Die Bürgersteige haben die Ausmaße deutscher Autobahnen, der Verkehr fließt daneben auf den mehrspurigen Alleen äußerst diszipliniert. Kein Gehupe, keine Staus. An Ampeln hat der Fußgänger Vortritt, und dieser wird respektiert.  Überhaupt herrscht Disziplin. Kein Minsker überquert die Straße einfach so. Es wird an der Fußgängerampel auf Grün gewartet. Ausnahmslos. Und nur an der Ampel wird die Straße überquert.

Stadttor von Minsk

Das ist sehr erstaunlich für eine 2 Mio. Stadt. Es wird nie hektisch, und schon gar nicht eng. Auch nicht in der Metro. Die ist zwar uralt und hat nur 2 Linien, aber sie schaufelt unermüdlich die Minsker von Niamiha nach Kamiennaja horka oder umgekehrt.  Die Fahrt ist lächerlich günstig und auch für Kyrillisch-Analphabeten oder Fahrplan-Legastheniker erschreckend einfach zu verstehen. Es gibt eine rote und eine blaue Linie.

Hier geht man mit Minsk auf Tuchfühlung. In vielen Weltstädten sieht man in erschöpfte Gesichter in den Pendlerzügen. Nicht so in Minsk. Seltsam ausdrucks -und teilnahmslos ja, aber nicht müde. Hinter der kühlen Fassade steckt aber alles andere als Kälte. Wer sich nur mit 2-3 Worten Russisch bemüht, dem wird geholfen. Zur Not mit Händen und Füßen.  Haracho? Haracho!

Minsk ist ein interessanter Mix aus historischen Fassaden. Dazu kommen futuristische Neubauten, die wohl für einen Umbruch stehen sollen, der aber in einer der letzten Diktaturen Europas nicht so richtig in die Gänge kommt. Aufschwung wird streng dosiert. Klar, MC Donald’s, Burger King und moderne Shoppings Malls sind schon da, aber viel spannender ist der Gang durch eines der typischen, alten Kaufhäuser.

Es wirkt wie aus unserer Zeit gefallen. Man entdeckt russische Kleidermarken & Namen, die man vorher noch nie gesehen hat. Außerdem scheint jeder russische Herr hier seine schwarze Lederjacke und seine schwarzen Lederschuhe zu kaufen. Mehr Auswahl gibt die Herrenabteilung auch nicht her. Gut, für ganz Verwegene gibt es noch die Farbe blau….

Penibel getrennte Bereiche für Herren, Damen, Kinder und Haushaltswaren. Im Gegensatz zum dekadenten Westen, gilt im Gum weniger ist definitiv mehr. Wäre man nicht in einem Gebäude, es hätte was von einem gut sortierten Flohmarkt aus dem Jahre 1989. So muss sich Kommunismus angefühlt haben.

Im Überwachungsapparat Lukaschenkos gibt es tatsächlich noch den KGB. Der heißt noch immer so, und seine Agenten überwachen auch 30 Jahre später die Straße. Oppositionelle verschwinden geräuschlos im Knast. Aber die Konsumhaltung des Westens sickert auch in Lukaschenkos Osten ein wie süßes Gift. MC Donalds steht nicht für ungesunde Ernährung, sondern für Moderne.  Im NEXT tanzt sich das junge, aufstrebende und sehr gutaussehende  Minsk in den Rausch. Der politische Wandel ist vielleicht nicht in Sicht, aber das Leben giert nach Fortschritt.  

Auffallend ist die Abwesenheit anderer Touristen. Wer will schon nach Minsk? In 4 Tagen habe ich nicht ein Wort Deutsch, Spanisch, Französisch oder Englisch gehört. Vermutlich sind alle in Paris. Oder es ist die Tatsache, das Minsk einfach nur Minsk als Attraktion bietet. Sprich, sich selber. Ungeschminkt und schnörkellos. Es gibt keine wirklichen Sehenswürdigkeiten, von denen man sagen könnte: muss man mal gesehen haben.

Einzig die Amerikaner – wenn sich denn welche ins kleine Bruderland vom Erzfeind Russland- trauen, suchen nach der Wohnung von Lee Harvey Oswald. Der Kennedy Attentäter, hat ab 1960 im linken EG in der Vulitsa Kamunistychnaja 4 gewohnt. Das passt zum Gesamtbild Weißrusslands. Die Jungen blicken sehnsüchtig nach vorne Richtung Westen, die Alten kleben gerne in der Vergangenheit des Ostens.

Zynisch gesprochen ist es also nur eine Frage der Zeit, bis die neue Welt Weißrussland vereinnahmt. Gut für das Land, schlecht für den Abenteurer. Minsk wird dann schnell zum nächsten Paris.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert